Das Stockholm-Syndrom ist eine psychologische Besonderheit, die bei entführten oder festgehaltenen Menschen auftreten kann. Das Opfer empfindet dabei Sympathien und Verständnis für die Täter und baut eine Beziehung zu ihnen auf.
Manchmal arbeiten die Betroffenen geradezu mit den Entführern zusammen und erleben die Polizei sogar als Gegner. Das Phänomen Stockholm-Syndrom ist bei Geiseln und Entführungsopfern gar nicht so selten wie gedacht. Vermutlich sympathisiert jeder Vierte mit den Verbrechern, die die Menschen festhalten. Der Name Stockholm-Syndrom kommt durch einen solchen Fall aus dem Jahre 1973 zustande.
Verbrecher nahmen damals in Stockholm vier Angestellte der Kreditbank als Geiseln (Geiselnahme am Norrmalmstorg). Das Gegenstück zum Stockholm-Syndrom ist übrigens das Lima-Syndrom, bei dem die Entführer Sympathien für ihre Opfer empfinden.
Das Stockholm-Syndrom kann bei Opfern entstehen, denen die Freiheit genommen wurde. Es handelt sich um Opfer von Geiseldramen, Entführungen, Kidnapping. Das Phänomen kommt aber auch bei häuslicher Gewalt vor.
Sogar bei Benutzern von technischen Geräten (bestimmten Mobiltelefonen, „Smartphones") oder Software (Internet-Browsern) soll eine Art Stockholm-Syndrom entstehen können, so dass der Begriff in den Medien auch in diesem Rahmen manchmal fällt.
Das Stockholm-Syndrom ist nur scheinbar paradox. Die Psychologie erklärt das Syndrom anhand verschiedener Modelle. Die Grundlagen bilden Faktoren wie der regelmäßige Kontakt zwischen Opfer und Tätern, eine Mindestdauer der Gefangennahme, eine starke emotionale Belastung des Opfers sowie eine möglichst geringe Anwendung von Gewalt gegen das Opfer.
Aus diesen Elementen entwickelt sich ein gewisser Bezug zwischen den Beteiligten. Für die Entstehung des Stockholm-Syndroms gibt es einige Theorien, von denen im Einzelfall meist mehrere zutreffend sind.
Sich mit den Tätern gutzustellen, erhöht ganz banal die Wahrscheinlichkeit, lebend aus der Situation herauszukommen. In der potenziell lebensbedrohlichen Lage handeln sie so, wie es für sie am ungefährlichsten scheint. Daher sind sie gehorsam und machen alles, was die Täter von ihnen verlangen. Besonders wenn die Täter zusichern, dass den Gefangenen nichts zustößt, wenn ihre Forderungen eingehalten werden, trifft dieser Punkt zu.
Die Regression ist das psychologische Phänomen, in kindliche Verhaltensmuster zurückzufallen. Eine Regression tritt beim Stockholm-Syndrom auf, weil der Betroffene sich als vollkommen abhängig von den Bezugspersonen (früher: Eltern, jetzt: Täter) erlebt. Die Entführer sind dafür verantwortlich, ob die Opfer es gut haben und überlebenswichtige Dinge (Nahrung, Wasser, Wärme) bekommen. Die Täter werden aus tiefenpsychologischer Sicht geradezu idealisiert.
Wenn die Situation eine Weile andauert und die Beteiligten oft aufeinandertreffen, sehen die Opfer immer mehr positive menschliche Eigenschaften in den Tätern. Sie bekommen Einsicht, dass es einen Grund gibt, dass sie entführt worden sind. Nicht selten zeigt sich eine gewisse Gruppenbildung, wenn die Geisel im Nahmen der Entführer mit der Polizei kommunizieren soll. Die Geisel fühlt sich der Gruppe der Entführer zugehörig.
Die Geisel spürt, dass ihr nichts angetan wird, wenn sie kooperiert. Deshalb handelt sie so, wie von ihr verlangt wird. Umgekehrt spürt der Geiselnehmer, dass die Geisel kooperiert, wenn er ihr gewisse Zugeständnisse macht. Es kommt zu einer gegenseitigen Verstärkung und zu einem einigermaßen positiven Verhältnis der Beteiligten.
Das Opfer sieht nur die unmittelbare, jetzige Bedrohung durch die Entführungssituation. Etwaige Aktionen der Polizei sind in dem Moment eine weitere Gefahr für Leib und Leben. Dadurch kommt es zu ablehnenden Gefühlen gegenüber der Polizei - Gefühle, die die Täter natürlich ebenfalls haben.
Dissonanz ist in der Psychologie der Sachverhalt, wenn bei einem Menschen die inneren Einstellungen nicht mit den Handlungen übereinstimmen. Es ist ein menschliches Bedürfnis, den Widerspruch zu beseitigen (Dissonanz-Reduktion). Bei der Entstehung des Stockholm-Syndroms ist das Opfer den Tätern gegenüber zunächst negativ gesinnt, handelt aber zu deren Vorteil. Um diese Dissonanz abzubauen, ändert der Betroffene seine Einstellung und entwickelt eine positive innere Haltung zu den Tätern.
Die Verschiebung ist der psychologische Vorgang, wenn Gefühle auf etwas anderes geleitet werden, wenn der eigentliche Auslöser nicht gegenwärtig ist oder zu sehr angstbesetzt ist. Das Opfer verschiebt die Abneigung und Angst von den Entführern auf die Polizei.
Um dem andauernden Stress zu entkommen, verleugnet der Betroffene innerlich, dass er sich in einer Entführungssituation befindet. Zeitweise kommt es zum Glauben und Verhalten, kein Entführter zu sein. Auch dies kann den Bezug zu den Geiselnehmern verbessern. Ebenso kommt es zur Selbsttäuschung, die Kontrolle über die Lage behalten zu können, indem ein Verständnis für die Täter aufgebracht wird und kooperiert wird.
In manchen Fällen mag es sich gegebenenfalls auswirken, dass ein Opfer schon vorher psychische Auffälligkeiten hatte, die einem Stockholm-Syndrom zuträglich sind. Beispiele können eine abhängige Persönlichkeitsstörung oder gar ein Masochismus als sexuelle Vorliebe sein.
Typischerweise tritt das Stockholm-Syndrom bei Geiseldramen und Entführungen in Erscheinung. Der Begriff wird gelegentlich aber auch auf andere Situationen bezogen und kann fallen bei:
Beim Stockholm-Syndrom handelt es sich um eine Art des Phänomens, das von Psychologen als „Identifikation mit dem Aggressor" bezeichnet wird. Das Opfer empfindet Sympathien für die Person oder Personengruppe, von der es in Gefangenschaft genommen wurde. Das Opfer führt Handlungen aus, die die Täter wünschen, und stellt sich oft sogar gegen die Personen, die von außen eine Befreiung erreichen wollen (Polizei, Angehörige).
Das Opfer entwickelt ein Gefühl der Sympathie, des Verständnisses und der Zuneigung für seine Entführer. Der Betroffene ist sogar für einige Sachverhalte dankbar: dass er am Leben gelassen wird, etwas zu essen oder zu trinken bekommt, nicht gefesselt und geknebelt ist. Das Opfer baut eine emotionale Beziehung zu den Tätern auf. Es verhält sich dadurch zu den Tätern solidarisch. Die Aktivitäten werden so geführt, dass sie den Tätern dienen, und die Betroffenen wollen sogar die Anerkennung der Täter erlangen. Das führt manchmal sogar so weit, dass Möglichkeiten des Entkommens nicht genutzt werden, da sich das Opfer zu den Tätern hingezogen fühlt.
Ebenso stellt sich das Opfer gefühlsmäßig gemeinsam mit den Tätern gegen die Polizei. Aktionen der Polizei und der Angehörigen werden als Bedrohung und Belastung aufgefasst. Oft nehmen die Opfer den Außenstehenden die Befreiungsversuche übel. In einigen Fällen des Stockholm-Syndroms nehmen Opfer sogar an weiteren kriminellen Machenschaften der Täter teil.
Noch nach der Entführung besteht oft eine emotionale Bindung des Opfers zu den Tätern. Teilweise versuchen Opfer im Nachhinein, das Verbrechen zu bagatellisieren und das Strafmaß zu mildern.
Auch die Entführer können eine Sympathie und ein Mitgefühl mit dem Opfer empfinden. Diese Begebenheit heißt Lima-Syndrom, kann aber auch als ein spezieller Teil des Stockholm-Syndroms angesehen werden.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass auch nicht vom Stockholm-Syndrom betroffene Opfer oft mit den Entführern kooperieren. Sie führen teils auch Handlungen aus, die ein erfolgreiches Eingreifen der Polizei zu verhindern. Dies tun sie aber nur, um primär ihre Unversehrtheit zu retten. Entscheidend für ein Stockholm-Syndrom ist die Gefühlssituation des Gefangenen. Im Zeitraum der Gefangenschaft kann dies von außen nur vermutet werden. Anzeichen dafür sind, dass Maßnahmen ergriffen werden, die mehr sind als die reine Überlebenssicherung. Aussagen des Betroffenen können ebenfalls darauf hinweisen, was aber oft erst nach Beendigung der Situation möglich ist.
Das Stockholm-Syndrom ist keinesfalls ein freiwilliger psychologischer Vorgang, sondern wird durch die Extremsituation hervorgerufen. Aus Sicht der „Retter" beziehungsweise der Polizei kann das Stockholm-Syndrom sogar vorteilhaft sein, auch wenn es zunächst anders scheint. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass dem Opfer unter der Entführung etwas zustößt, wenn ein Stockholm-Syndrom vorliegt. Gerade die mögliche Sympathie der Entführer gegenüber den Opfern (Lima-Syndrom) kann eine Freilassung begünstigen.
Später kann eine bestehen gebliebene „Identifikation mit dem Aggressor" durch eine Psychotherapie behandelt werden.
Letzte Aktualisierung am 20.05.2021.