Das Münchhausen-Syndrom ist eine seelische Störung. Betroffene täuschen bewusst medizinische Beschwerden vor oder fügen sich selbst Verletzungen zu. Sie bezwecken damit, zu einem Patient zu werden und eine Untersuchung und Behandlung zu bekommen. Vermutlich beziehen die Patienten einen so genannten Krankheitsgewinn, denn das medizinische Personal kümmert sich um sie. Die Störung ist übrigens tatsächlich nach dem „Lügenbaron" Münchhausen aus den bekannten Geschichten benannt worden. Andere Bezeichnungen sind artifizielle Störung, vorgetäuschte oder selbstmanipulierte Störung. Das Münchhausen-Syndrom ist nicht mit der Hypochondrie gleichzusetzen, denn Hypochonder spielen Krankheiten nicht bewusst vor.
Eine wohl seltenere Störung aus dieser Gruppe von Erkrankungen ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oder Münchhausen-Syndrom by proxy. Hierbei werden anderen Menschen, meist dem eigenen Kind, Verletzungen zugefügt oder erhebliche Krankheitssymptome zugeschrieben.
Die Ursachen des Münchhausen-Syndroms sind weitgehend unklar. Möglicherweise spielen Belastungssituationen aus der Kindheit, wie der Verlust einer Bezugsperson oder ein sexueller Missbrauch, eine Rolle. Die Krankheitslügen und selbstverletzenden Handlungen bringen auf der einen Seite einen sekundären Krankheitsgewinn, also gewisse Vorteile durch die Leiden. Betroffene erhalten die Zuwendung, die ihnen sonst fehlt. Auf der anderen Seite können sich Menschen mit selbstverletzendem Münchhausen-Syndrom eine Erleichterung von seelischen Spannungen verschaffen, ihren Körper gewissermaßen spüren. Manche bringen durch die Eigenverletzung eine Ablehnung gegenüber sich selbst zum Ausdruck.
Beim Münchhausen-Syndrom spielen Betroffene verschiedene Erkrankungen und Symptome vor. Dies geschieht zwanghaft. Die Betroffenen wissen, dass sie nicht an der jeweiligen Krankheit leiden. Häufig gewählt werden unspezifische Symptome, wie Magen-Darm-Beschwerden mit Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Rücken- und Gliederschmerzen, Hautausschläge. Betroffene Frauen geben oft Menstruationsbeschwerden an. Sensibilitätsstörungen oder epileptische Anfälle lassen sich zunächst ebenfalls schlecht widerlegen und sind deshalb beliebt bei Münchhausen-Patienten. Ärzte müssen diesen Symptomen nachgehen, weil sich unter Umständen schwere Erkrankungen dahinter verbergen könnten. Oft werden die Symptome gewechselt. Manchmal geben die Betroffenen auch ein ganz bestimmtes Krankheitsbild vor etwa einen Herzinfarkt.
Betroffene nehmen allerlei Manipulationen vor. In schweren Fällen des Münchhausen-Syndroms fügen sich die Betroffenen sogar selbst Schäden oder Verletzungen zu. Unter Umständen wird eine Verletzung oder Erkrankung regelrecht inszeniert beispielsweise mit Kunstblut. An der Haut können durch Manipulationen oder durch Verätzung Auffälligkeiten hervorgerufen werden. Auch die Einnahme bestimmter Medikamente kommt vor, um bestimmte Symptome zu provozieren. Der Ideenreichtum der Patienten kennt manchmal keine Grenzen.
Infolge der vorgetäuschten Krankheiten oder selbst beigebrachten Verletzungen stellen sich diese Menschen bei Ärzten vor. Oftmals finden sie sich in den Notdiensten. Da die Münchhausen-Patienten die Gesundheitsprobleme plausibel darstellen und auch medizinisch oft gut informiert sind, glauben ihnen die Ärzte meist zunächst. Erst wenn sich herausstellt, dass keine organischen Ursachen vorliegen, denken die Mediziner an eine psychische Störung. Zu diesem Zeitpunkt machen sich die Patienten oft schon aus dem Staub.
Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom wechseln daher sehr oft den Arzt oder die medizinische Einrichtung. Ihr Ziel ist es nicht, geheilt zu werden, sondern eine medizinische Behandlung zu bekommen. Oft wird eine ganze Kaskade an Untersuchungen und Behandlungsmethoden durchgeführt. Viele dieser Maßnahmen haben ein eigenes Risiko, welches die Patienten aber eingehen. Gelegentlich nehmen die Betroffenen sogar in Kauf, eine Operation über sich ergehen zu lassen.
Die Störung hängt häufig mit anderen Krankheitsbildern aus der Psychiatrie zusammen, insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Aber auch bipolare (manisch-depressive) Störung oder Angststörung können mit dem Münchhausen-Syndrom vergesellschaftet sein.
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (oder Münchhausen-Syndrom by proxy) ist eine Variante der Störung. Die Betroffenen schieben aber einen nahestehenden Menschen vor, um bei diesem eine Krankheit zu simulieren. Meist ist es das eigene Kind. Auch beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kommt es nicht selten vor, dass dem Kind sogar absichtlich Verletzungen zugefügt werden, damit eine medizinische Behandlung notwendig wird. Nach außen hin wirken betroffene Mütter sehr fürsorglich, obwohl sie ihr Kind nur für die eigenen Zwecke benutzen und die Gesundheit und sogar das Leben aufs Spiel setzen. Auffällig ist, dass sie ihr Kind bei der ärztlichen Untersuchung und Behandlung nicht alleine lassen wollen.
Das Münchhausen-Syndrom ist zunächst schwierig festzustellen. Natürlich sind Ärzte dazu verpflichtet, organische Erkrankungen auszuschließen. Falls sich der Betroffene eine Verletzung oder Schädigung selbst zugefügt haben sollte, so wird diese natürlich medizinisch behandelt.
Wie jeder Patient wird der Betroffene vom Arzt befragt (Anamnese). Die Vorgeschichte (oft wechselnde Erkrankungen und häufiges Aufsuchen von Ärzten) kann Hinweise auf ein Münchhausen-Syndrom geben. Das Gespräch muss sehr genau durchgeführt werden. Häufig werden „verräterische" Auskünfte aber auch von den Betroffenen verschwiegen. Da sie weiterhin eine ärztliche Behandlung suchen, versuchen sie zu vermeiden, dass herauskommt, dass sie die Krankheiten vortäuschen. In den körperlichen Untersuchungen kommen jedoch keine krankhaften Befunde zum Vorschein - oder eben solche, die sich selbst zugefügt wurden.
Bestimmend ist es, wenn diese Patienten krank sein wollen und behandelt werden wollen, anstatt dass sie wie die meisten anderen Menschen Wohlbefinden und Gesundheit suchen. Außerdem kann es auffällig sein, dass Betroffene sich ungewöhnlich gut auskennen mit medizinischen Fachthemen.
Vor allem beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kann eine Videoüberwachung den Sachverhalt aufdecken. Ob dies aber durchführbar ist, wird kontrovers diskutiert.
Die Behandlung des Syndroms gestaltet sich schwierig. Selbst zugefügte Verletzungen werden zunächst versorgt. Aber das Münchhausen-Syndrom an sich ist nur durch psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung zu bessern. Das Problem liegt darin, dass die Patienten dies zu vermeiden versuchen.
Im Wesentlichen gestaltet sich die Therapie des Münchhausen-Syndroms in psychotherapeutischen Maßnahmen. Bei selbstschädigendem Verhalten ist es angebracht, dass der Patient stationär in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen wird. Die Behandlung richtet sich danach, ob gleichermaßen eine Borderline-Störung oder auch eine Angststörung vorliegt. In Frage kommt in der Regel eine Psychotherapie, meist eine Verhaltenstherapie. In verschiedenen Fällen müssen auch Medikamente gegen psychische Auffälligkeiten gegeben werden (Psychopharmaka), beispielsweise Antidepressiva (Mittel gegen Depressionen).
Da es in der Natur des Syndroms liegt, dass Patienten sich einer psychologischen oder psychiatrischen Behandlung entziehen, wird es oft erst spät entdeckt. Die Patienten werden häufig nicht richtig therapiert. Die Prognose hängt auch von den begleitenden psychischen Störungen ab. Gefährlich kann es zudem werden, wenn Betroffene einmal tatsächlich ein schweres Leiden haben, aber aufgrund des bekannten Münchhausen-Syndroms nicht mehr ernst genommen werden.
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kann gefährliche Schäden beim Kind bedingen. Die Gefahr ist groß, dass das Kind selbst eine psychische Störung entwickelt. Aber die provozierten Krankheitszeichen beim Kind können zu körperlichen Schäden führen, die unter Umständen so stark sein können, dass das Kind daran stirbt.
Letzte Aktualisierung am 27.05.2021.